Der Gierschlung

Eine Pagen-Geschichte von Teo von Torn.
in: „Indiana Triböne” vom 11.10.1906


Die Generalprobe vor dem Kommandeur der Kadettenanstalt war vorüber. Die für den Pagendienst befohlenen Primaner und Selektaner hatten ihre, seit Wochen eingedrillten höheren Lohndienerkünste im Allgemeinen zur Zufriedenheit vorgeführt. Selbst Oberleutnant von Kaminski — der als Pagengouverneur fungirende Adjutant des Korps — hatte hinter dem Rücken des Herrn Oberst nur dreimal die Zähne gefletscht und mit der Faust gedroht.

Das erstemal, als der Primaner Graf Syfferstedt wiederum seinen Daumen in dem mit Wasser gefüllten Probierteller badete und dann — als er das Versehen bemerkte — sich im Schreck die weißen Kniehosen bekleckerte. Zum zweiten hatte Ernst von Kosta das als Courschleppe dienende Bettlaken mit Obergriff gefaßt — ein Versehen, welches für einen gebildeten Kadetten und demnächstigen Leibpagen ungefähr einer fahrlässigen Urkundenfälschung gleichkommt. Drittens war es dem kleinen Berlow nur nach übermenschlichen Anstrengungen geglückt, den Schlag der Galaequipage — einer für diesen Zweck bestellten Droschke zweiter Güte — zu öffnen. Dafür klemmte er seinem Freunde Rechtern, der einen königlichen Prinzen mimte und von dem er wußte, daß der Schuft heimtückisch den Wagenschlag zugehalten, beim zweiten Einsteigen den linken Hinterfuß in die Thür.

Sonst war alles sehr schön gegangen — und der Herr Oberst, der von diesen Geschichten wohl nicht viel verstand, hatte dem süßsauer lächelnden Adjutanten seine Anerkennung ausgesprochen. Dann wandte er sich an die in zwei Gliedern aufgestellten jungen Leute mit den letzten väterlichen Ermahnungen. Er führte ihnen die Ehre zu Gemüth, die ihnen durch das Kommando zutheil werde, und ihre Verantwortung hinsichtlich des Renomees der Anstalt.

„Bleiben Sie stets eingedenk, daß die Augen der Allerhöchsten Herrschaften auf Ihnen ruhen und die Augen vieler Tausende von Schaulustigen. Jede Taprigkeit wird dadurch in's Ungeheuerliche vergrößert. Denken Sie 'mal, wenn nachher in den Zeitungen zu lesen wäre: Einen Mißton trug in die schöne und erhebende Feier ein Dussel von Page, welcher Ihrer Königlichen Hoheit der Frau Großherzogin von So und So die Remouladensauce über das Brokatkleid geschüttet. Oder: Recht unliebsam ist die Ungeschicklichkeit eines Primaners der Kadetten-Anstalt aufgefallen, der als Page dem chinesischen Gesandten auf den Zopf getreten. Der junge Mensch scheint sich für den Hofdienst zu eignen wie eine Ostsee-Qualle zum Fensterputzen. Dergleichen wäre mir sehr unangenehm — und ich gebe Ihnen die heilige Zusicherung, daß den Betreffenden der Deibel frikassiren würde. Auch in Ihrem eigenen Interesse ist die größte Aufmerksamkeit und das Niederringen jeglicher übermüthigen oder tapsigen Anlage geboten. Ich entsinne mich aus meiner Jugend, daß ein sonst sehr begabter und hoffnungsvoller Selektaner seine ganze Karriere verpfuscht hat dadurch, daß er als Schleppenträger beim Fackeltanz breitgerutscht ist, sich auf den Allerwerthesten gesetzt und dadurch um ein Haar die hohe Braut zu Fall gebracht hat. Also sehen Sie sich vor. — Haben Sie noch etwas, Herr Oberleutnant?” wandte er sich an den Adjutanten, der sich durch eine gewisse Unruhe bemerkbar gemacht hatte.

Herr von Kaminski flüsterte dem Chef ein paar Worte zu, worauf dieser nickte und noch einmal das Wort ergriff.

„Ja — ganz recht. Noch eins möchte ich Ihnen einschärfen. Bändigen Sie Ihre Gefräßigkeit! Es ist bei früheren Gelegenheiten auffällig geworden, daß das Pagenkorps im Essen und besonders im Herumnaschen an Süßigkeiten jene Zurückhaltung hat vermissen lassen, die wohlerzogene Menschen bei solchen festlichen, auf Repräsentation gespitzten Anlässen zu beobachten haben. Erwecken Sie nicht den Eindruck, als wenn Sie aus dem Hungerthurm entsprungen wären. Das ist blamabel für Sie und für uns alle. Seine Kaiserliche Hoheit heirathen nicht, auf daß Sie sich den Magen verkorksen. Was Ihnen zu Tisch geboten wird, davon essen Sie mit Maß und Bescheidenheit. Darüber hinaus wird nichts genommen. Absolut nichts. Verstanden? Ich wende mich besonders an Sie, von Krügel. Sie sind ein ausgemachter Gierschlung, der nie weiß, ob er noch oder schon wieder hungrig ist. Die Ledertasche, welche Sie sich gelegentlich der Neujahrscour in den Rock genäht haben, ist noch unvergessen. Gnade Ihnen Gott, wenn diesmal etwas dergleichen bemerkt wird. Treten Sie weg.”

Diese Vorhaltungen waren für die jungen Herren ein harter Schlag in's Kontor. Gewiß freuten sie sich der Ehre, nach altem, ritterlichem Brauche bei Hofe dienen zu dürfen. Ebenso sehr aber freuten sie sich auch der zu erwartenden Genüsse. Tagelang schon hatten sie den morgendlichen „Mehlpamps mit Bulken” schnöde zurückgewiesen in Erwartung der Herrlichkeiten, die ihre Magen demnächst in Erstaunen setzen würden. Bis dahin war es eins der schönsten Vorrechte der Pagen gewesen, alle Reste der Frucht- und Konfektschalen nach der Galatafel auszuräubern und in sich hineinzukehren, was das Zeug hielt. Da der Kommandeur das ausdrücklich verboten, war ein Theil der Festbegeisterung hin — und nicht nur für die Pagen. Durch die drei oberen Klassen des Korps ging ein dumpfes Grollen, als der neue Ukas bekannt geworden war. Die Auserwählten hatten nämlich sonst die Pflicht, auch der zurückgebliebenen Kameraden zu gedenken und ihnen etliches von den guten Sachen mitzubringen. Das war nun abgeschnitten — und es begegnete nur einem trüben, ungläubigen Kopfschütteln, als der Portepee-Unteroffizier Freiherr Timm von Krügel die Enttäuschten aufzurichten versuchte: „Laßt nicht die Schnuten hängen, Kinder! Ich werd's schon deichseln!”

*           *           *

Bald nach der Abreise des neuvermählten hohen Paares wurde die Galatafel aufgehoben.

Der Hof hielt in den Nebensälen zwanglosen Cercle — und damit war die Thätigkeit der Pagen zu Ende. Ein Beamter des Ceremonienamtes, dessen Obhut und Pflege die jungen Herren anvertraut waren, beorderte sie in die blaue Kammer zu der sehnlich erwarteten Abfütterung.

Alles drängte dorthin — mit alleiniger Ausnahme desjenigen, der sonst auf einen solchen Ruf wie der Grobschmiedgeselle in dem bekannten Liede „grausam zu eilen” pflegte. Zum höchsten Gaudium der mit Abräumen beschäftigten Kammerdiener und Lakaien entwickelte Timm von Krügel eine rasende Geschäftigkeit. Neben jedem Couvert hatte eine Tafel Chocolade gelegen, deren prächtig ausgestatteter Umschlag eine Photographie des Brautpaares zeigte. Viele der Fürstlichkeiten, Gesandten, Minister usw. hatten die hübsche Gabe vergessen. Im Nu hatte Timm Krügel dreißig, vierzig Stück davon errafft und in einem starken Pappbeutel untergebracht. Darüber der Inhalt dreier Bonbonieren und eine Schale kandirter Früchte. Der mit großem Raffinement postmäßig vorbereitete, zusammenlegbare Karton wurde dann affenartig geschwind geschlossen, verschnürt und die mit Adresse und Frankatur versehen Packetkarte zwischen die Strippen geklemmt.

Aufathmend zog der Räuber ab, um die Sendung einem bereits verständigten Lakaien zur Weiterbeförderung zu übergeben. Leider aber verfehlte Timm Krügel die rechte Thür. Anstatt auf das Vestibül gerieth er in einen Salon, in dessen Thür der Schreck ihn derart lähmte, daß er starr und steif wie Lots Weib auf der Schwelle verharrte.

„Nun — was bringen Sie?”

„Majestät —” stammelte der Fassungslose.

„Treten Sie mal näher — und dann 'raus mit der Sprache.”

In Timm Krügel spannte sich jeder Nerv. Blitzartig kam ihm zum Bewußtsein, daß nur absolute Offenheit und Wahrhaftigkeit ihn retten konnte. Und so erzählte er der köstlich amüsirten Korona von dem neuen Ukas des Herrn Oberst, von der Enttäuschung der Kameraden und von seiner Absicht, diese an der Festfreude theilnehmen zu lassen.

Alle lachten — nur der hohe Herr blieb ernst — bis auf ein ganz leises Zucken um die Mundwinkel. Er nahm dem Pagen das Packet ab und wog es prüfend in der Hand.

„Das ist alles ganz gut und schön, mein Sohn. Aber Sie müssen nicht so mit dem Porto aasen. Das sind lange keine fünf Kilo. Also marsch — — nachfüllen!”

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